Bericht des Reutlinger Generalanzeigers von Ulrike Glage
Classic-Open-Air - Gelungene
Premiere im Kreuzeiche-Stadion mit 4000 Zuschauern. Parallel wurde eifrig gemessen
Lauschangriff auf Mozart
REUTLINGEN. Stola statt Fan-Schal, Lackschuhe statt Sneakers: Beim Publikum, das am Samstagabend in aufgeregter Erwartung Richtung
Kreuzeiche-Stadion strömte, handelte es sich ersichtlich nicht um Fußballanhänger. Im weiten Rund ging es das erste Mal auch nicht um Tore, Flanken oder Fallrückzieher, sondern um Sangeskunst,
Taktempfinden und instrumentale Virtuosität: 4000 Opernfreunde zogen Philharmonia Chor und Betzinger Sängerschaft zu ihrem vierten Classic-Open-Air mit Feuerwerk an. Fußballarena statt
Bruderhausgelände - eine Premiere und ein Experiment, das die meisten am Ende als überaus gelungen bezeichneten.
Vor allem die Veranstalter, die im Jahr zuvor »nur« 2 800 Zuschauer zählten. An der Kreuzeiche ist freilich platzmäßig
auch mehr drin als unten am ZOB, wo bei etwas über 3000 Stühlen das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Dort mussten freilich die Damen und Herren Sänger nicht zum Wischlappen greifen wie im
Stadion: Der Chor sorgte eigenhändig für saubere Sitzplätze.
Security als Platzanweiser
Bevor sich die Zuschauer auf denen niedersinken lassen konnten, war bei etlichen das große Suchen angesagt: Orientierungslos irrten
sie mit ihren Eintrittskarten umher. »Reihe 17, die gibt's gar nicht«, gab einer beim x-ten Suchlauf schiergar auf. »Saget Se mal, wo isch DD?«, löcherten andere die durchtrainierten
Security-Mitglieder, die in Anbetracht des gediegenen Publikums an diesem Abend sicherheitstechnisch gar nicht, als Platzanweiser umso mehr gefordert waren: Das Gros der Besucher war zum ersten
Mal im Stadion, da durfte etwas Nachhilfe bei der Sitzplatz-Suche schon sein.
Bei vielen herrschte Neugier auf den neuen Veranstaltungsort, bei manchen Skepsis: Zu nüchtern fanden sie die Sportarena,
vermissten das weitläufige städtische Ambiente vom ZOB. Doch spätestens, als es dunkel wurde und die Blicke von der mild beleuchteten Konzertmuschel angezogen waren, sich alles nur noch auf die
Musik konzentrierte, da verstummten zunehmend auch die Kritiker. »So hab ich das Stadion noch nie erlebt«, war ein Besucher, der die Kreuzeiche bisher nur von SSV-Heimspielen kannte, sichtlich
angetan.
Das Getümmel in der Pause erinnerte dann schon eher an die Szenerie bei Fußballspielen. Mittendrin die komplette
Reutlinger Bürgermeister-Riege samt Oberbürgermeisterin Barbara Bosch. Die war ganz hin und weg. Anders sei's als am ZOB, »aber eine grandiose Kulisse«. Die Verlegung tue nicht nur dem Konzert,
sondern auch dem Stadion gut. Und den Veranstaltern: »Ich würde mir wünschen, dass es sich hier fest etabliert.«
Ob dem so ist, liegt ganz wesentlich an den Herren, die vor und während des Konzerts mit ihren technischen Geräten durchs
Stadion und die angrenzenden Wohngebiete streiften: Das Experten-Team vom Ingenieurbüro Dröscher, das die Geräusche penibel aufzeichnete und für die spätere Analyse speicherte. Bekanntlich soll
ihr Gutachten darüber Aufschluss geben, inwieweit die Grenzwerte des Bundesimmissionsschutzgesetzes eingehalten wurden, was wiederum entscheidend für eine Bebauungsplanänderung und die
Zulässigkeit von Veranstaltungen wie dem Open-Air-Konzert im Stadion ist.
»Applaus« bei Mozart, »Stille«, »laute Konzertpassage« - die Experten notieren jede Geräuschquelle, ordnen sie dem
gemessenen Pegel zu und können so über die aktuellen Werte hinaus ihre Berechnungen auch für andere Veranstaltungen anstellen. »Man kann«, erklärt Frank Dröscher, »auf diese Weise rausfinden, wie weit nach oben Luft ist, ohne dass unzulässige
Belastungen auftreten.« Und sein erster Eindruck vom Classic-Open-Air: »Alles im grünen Bereich.« Endgültiges lässt sich freilich erst nach der Auswertung sagen.
Willi Gödde, der seine Wohnung im zwölften Stock in der Hermann-Ehlers-Straße als Dauer-Messstation zur Verfügung gestellt
hatte, war sich schon am Samstag sicher: »Das stört doch keinen Menschen.«
Bericht des Reutlinger Generalanzeigers von Ulrike Aringer-Grau
Classic-Open-Air - Erstmals
fand die Reutlinger Opernnacht unter freiem Himmel im Kreuzeiche-Stadion statt
Gelungenes Festival für alle Sinne
REUTLINGEN. Die ersten Feuerwerkssalven
begrüßten bereits den Chor, als er über das grüne Spielfeld zum Auftritt schritt. Viertausend Menschen von Nah und Fern waren ins Kreuzeiche-Stadion zum 4. Reutlinger Classic-Open-Air gekommen
das Event für alle Opernfreunde. Niemand dürfte enttäuscht worden sein: Ein Opernhighlight reihte sich an das nächste, gleichsam ein Feuerwerk der Hits. Der Spaziergang durch die Operngeschichte
begann bei Händel, verweilte bei Mozart, Johann Strauß und Gounod, um dann mit Wagner zu schließen. Alles, was dazugehört, war also aufgeboten. Zusätzlich gab's noch ein paar instrumentale
Leckerbissen.
Tonschöne Klangkraft
Die Betzinger Sängerschaft und der Philharmonia Chor Reutlingen, die den Abend unter der Leitung von Multitalent und Initiator Martin
Künstner organisiert hatten, waren bestens aufgelegt, über zeugten durch harmonische Einheit und tonschöne Klangkraft. Masse mit Klasse, die sich durch eine erstaunliche Differenzierungsstärke
auszeichnete.
Monumental erklangen Händels »Rinaldo«-Chor »Vinto è sol dalla virtu« und »Wenn Tugend und Gerechtigkeit« aus Mozarts
»Zauberflöte«, bündig das »Giovani liete, fiori spargete« aus seinem »Figaro«, ein wenig melancholisch, aber mit Esprit ertönte »O habet Acht« aus Strauß' »Zigeunerbaron«, sakral und gleichzeitig
weihevoll zeichnete der Chor den Einleitungschoral aus Wagners Meistersingern nach. Die Männer nahmen den Tannhäuser-Pilgerchor sehr gedämpft, die Müdigkeit der Gläubigen war ihnen geradezu
anzusehen. Eine kleine Gruppe hatte schließlich die enorm spritzig vorgetragene Wahl zwischen »Wein oder Bier« (Gounod, Faust), der sich der Gesamtchor als Kirmes-Teilnehmer
anschloss.
Mit dem Bariton Markus Eiche hatten die Veranstalter einen Glücksgriff getan. Seine tenoral hell gefärbte Stimme gefiel
besonders in den Mozart-Arien aus der »Zauberflöte« (wunderbar hier das Flötensolo) und »Don Giovanni«, ebenso überzeugte der Sänger als Gounod'scher Valentin und im »Abendstern« aus Wagners Tannhäuser. Die einfühlsam und mit großer Dramatik
verkörperte Partie der Elisabeth aus dem Tannhäuser lag dann auch der Sopranistin Daniela Herrmann, die zuvor Arien von Händel, Mozart und Strauß unnötig schweren und pathetischen Ausdruck
verliehen hatte.
Kanae Yamamoto begeisterte
Ein Publikumsmagnet war Kanae Yamamoto, die als Marimbaphonistin die Schlägel kunstvoll über die Holzplatten fliegen ließ. Mit
Rimski-Korsakows »Hummelflug«, Khatchaturians »Säbeltanz« (im blutroten Blazer darboten) und Gustav Peters »Souvenir de Cirque Renz« (mit einer Federboa in türkis auf dem Kopf) erspielte sie sich
alle Sympathien des Publikums.
Die Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz zeichnete sich als sensibler Begleiter der Chöre und Arien aus, war in
Schostakowitschs »Marsch und Fußball« vom Umfeld angesteckt ganz auf Zack.
Zwei monumentale Werke am Schluss
der beiden Programmteile setzten dem Ganzen die Krönung auf: Zunächst Beethovens opulente Chorfantasie, in der Götz Schumacher mit dem viel zu kleinen Flügel und der ansonsten aus gezeichneten
Akustik zu kämpfen hatte. Und dann das glanzvolle Finale: die Uraufführung des Hölderlin-Textes »Hymnus an die Liebe« in der Vertonung von Karl Michael Komma das vollendete Höchstmaß der
akustischen und visuellen Höhepunkte. Punktgenau war die Inszenierung von Musik, Funkeln und Knallen, die bilderreiche, natürliche Musiksprache des Reutlinger Komponisten paarte sich glanzvoll
mit den Reizen des Feuerwerks. Trotz des weniger romantischen Ambientes hat sich auch in diesem Jahr das Konzept des Classic-Open-Air bewährt ein gelungenes Festival für alle Sinne!
19., 20. und 22. November 2004
Bildergalerie
Presseberichte
(Betzinger Blättle vom 26.11.2004)
Unterhaltsamer Zigeunerbaron
Schon im Vorfeld der Aufführung in der Friedrich-List-Halle hatte die Sängerschaft zum Ausdruck gebracht: "Der Zigeunerbaron" von
Johann Strauß (Sohn) schwankt zwischen Operette und komischer Oper. Die Geschichte um den jungen Flüchtlingssohn in den Standesquerelen bietet dem Publikum Ohrwürmer wie "Ja, das alles auf Ehr"
und "Wer uns getraut".
Enttäuscht konnte eigentlich keiner sein, der am letzten Freitag, Samstag oder dann am Montag der Einladung Folge leistete
und all das wahrnahm, was der ungarische Romancier Maurus Jokai als Libretto lieferte und was dann von dem ungarisch-deutschen Journalisten Ignatz Schnitzer bühnenreif bearbeitet wurde. Die
Uraufführung fand am 24.10.1885 in Wien statt und hatte die Handlung aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Inhalt.
Im 1. Akt, so das Bühnenbild von Michael Grauer in Verbindung mit den nötigen Requisiten die Andeutung
des Hauses von Kálmán Zsupán (Horst Nussbaum), ein reicher Schweinezüchter, und als Pendant ein Teil der Wagenburg, in der die Zigeunerin Czipra (Regina Lindner) haust. Sie musste mit ansehen,
wie Zsupán mehr und mehr die Ländereien des einst reichen alten Barinkay vereinnahmte. Änderung sollte dessen Sohn Sándor Barinkay (Daniel A. Thiersch) bringen, der in den ersten Szenen vom
königlichen Kommissär Conte Carnero (Hagen Henning) im Rahmen einer allgemeinen Amnestie sein ererbtes Eigentum zurückerhalten sollte. Der schmissige Barinkay lässt mit seinem Erscheinen
aufhorchen, als er zudem um die Hand von Zsupán Tochter Arsena (Ingrid Frey) anhält. Die jedoch liebt Ottokar (Jens Hauke Sippel), den Sohn ihrer Erzieherin Mirabella (Gertraude Rudolph-Sauer).
In ihrer ersten Reaktion auf den Heiratsantrag spielt sie noch mit und kann sich eine solche Verbindung nur vorstellen, sofern ihr zukünftiger Mann die Stellung eines Barons
einnimmt.
Sándor Barinkay wird im weiteren Verlauf der Szenerie auf die junge Saffi (Adelinde Bohn), die Ziehtochter der Czipra
aufmerksam, die ihn in ihrem Gesang an ein Lied seiner Mutter erinnert. Auf dem Weg zur Schlossruine, wo er von Saffi begleitet wird, trifft er auf das Paar Ottokar und Arsena, die wenig Gutes
über den Ankömmling verbreiten. Quasi zu Hilfe kommen ihm die Zigeuner, die ihn zum Wortführer gegen den unbeliebten Schweinezüchter machen. Dabei gibt er sich, einer Eingebung Czipras folgend,
als Baron der Zigeuner aus, verzichtet wortreich vor Zsupán auf dessen Tochter als Frau und gibt dafür Saffi als seine Gemahlin aus. Die Zurschaustellung Zsupán gelingt: Die Zigeuner tragen ihren
Helden triumphierend auf den Schultern zu ihren Behausungen.
Im 2. Akt haben sich die Zigeuner neben der Schlossruine angesiedelt. Czipra verrät Sándor und Saffi das
Versteck des Erbschatzes der Barinkays. Die Gegenseite mit Zsupán an der Spitze beobachtet voller Neid die Glückssträhne der Zigeuner. Da tritt Carnero als Sittenwächter mit auf den Plan und
macht Barinkay Vorhaltungen wegen des Zusammenlebens mit Saffi. Schelmisch erheben die beiden - "Wer uns getraut" - Dompfaff, Nachtigall und Störche als Trauinstanz. Das Happyend wird mit dem
Auftauchen von Graf Peter Homonay (Frank Bossert) jäh unterbrochen. Eine Rekrutierung ist angesagt. Auch Barinkay fühlt sich verpflichtet und opfert den gefundenen Schatz dem Vaterland. Als
Carnero erneut die lose Verbindung von Saffi als verwerflich bezeichnet, enthüllt Czipra ein Geheimnis: Saffi sei kein Zigeunerabkömmling, sondern Tochter des letzten türkischen Paschas. Barinkay
macht dieser Standesunterschied zu schaffen. Als einzigen Ausweg sieht er, sich - trotz Saffis Klagen - den Soldaten anzuschießen.
Der 3. Akt läuft vor der Wiener Kulisse ab. Der spanische Krieg gehört der Vergangenheit an. Die
Bevölkerung empfängt mit Begeisterung die heimkehrende Truppe. Barinkay kehrt mit Auszeichnungen zurück. Die Obrigkeit, Graf Homonay, händigt ihm den Schatz wieder aus und führt ihm Saffi als
Braut zu. Zu diesem Paar gesellen sich noch - glücklich vereint - Ottokar und Arsena. Nur der königliche Sittenkommissär wird seiner Rolle enthoben, da seine Kompetenz dem Strukturwandel zum
Opfer fiel.
Trockene Handlung? Keinesfalls. Der konzertante Aufwand mit dem Filharmonie-Orchester Filderstadt, nachdem die Musiker
zwischen Bühne und Parkett ihren Part unter der konsequenten Taktführung von Martin Künstner einnehmen mussten, war in der Friedrich-List-Halle gewaltig. Nicht minder eindrucksvoll der szenische
Ablauf, wo Zigeuner, Zigeunerinnen samt Zigeunerkindern und das Gefolge aus Husaren, Marketenderinnen, Hofherren sowie Hofdamen so manchen Wirbel inszenierten. In allen Stimmlagen sorgten die
Mitwirkenden für Furore, damit die Regie-Einfälle - man denke nur an die wechselnden Computer-Animationen im Bühnenhintergrund - zum optischen Schmankerl wurden. Erstaunlich, wie sich die sonst
züchtig gekleideten Sängerinnen und Sänger der Betzinger Sängerschaft in ein Volk von Zigeunern verwandelte. Fast kein Kostüm glich dem andern. Zugeschneidert auf das Libretto und die
Johann-Strauß-Musik stürzten sich Statisten und tonangebende Personen, unterstützt von Adi´s Tanz-Ensemble, in die Inszenierungs- und Choreographie-Vorgaben.
Ob nun als Oper, Operette oder komische Oper empfunden, diese Gratwanderung spielt bei dem beifallfreudigen Publikum eine
untergeordnete Rolle. Ihm kam es vor allem darauf an, sich den Liebling unter den Solisten in dem breiten Repertoire auszusuchen. Dass Horst Nussbaum als reicher Schweinezüchter mit seinem
Bariton bei manchem den Vogel abschoss, lag auch an seiner bühnenreifen Gestik. Imponierend auch die Zigeuner in der Person der Altistin Regina Lindner, die mit ihrer Spontanität das
Zigeunerleben stimmlich geradezu verkörpert. Sándor Barinkay, der junge Emigrant, fand in dem Tenor Daniel A. Thiersch die die Bühne beherrschende Figur. Nimmt man all die vielen szenischen
Effekte - ob nun die vier jungen "Einrädler" (Florian Henning, Miriam und Jakob Künstner, Moritz Peters) und die betagten Kriegsherren auf ihren Vehikeln hinzu - dann waren dies alles Einlagen
eines vielfältigen und stimmigen Bühnenauftritts. Bei klassischer Walzermusik mussten die Tanzeinlagen geradezu zwingend folgen, ob angesichts der Wiener Gesellschaft oder bei den Tönen, die den
Triumph der Kriegsgewinnler in der Kehle führten. Mit der Betzinger Sängerschaft und mit der Vitalität eines Martin Künstners ist solches schon mal zu machen. Dabei stand die Unterhaltung für den
Zuschauer und Zuhörer ganz weit im Vordergrund.
(Reutlinger General-Anzeiger vom 22.11.2004)
Musiktheater - Strauß-Spieloper mit der Betzinger Sängerschaft. Wien und Puszta: »Der Zigeunerbaron«
Schwelgen in Melodienseligkeit
REUTLINGEN. Wiener Schmelz mit wehen und wilden
Puszta-Tönen: »Der Zigeunerbaron«. In der Friedrich-List-Halle erfuhr die Komische Oper von Johann Strauß/Sohn eine schmissige und gefühlvolle Wiedergabe. Die Betzinger Sängerschaft hatte sich
mit Elan an die Aufführung dieses zwischen Romantik und Heiterkeit schwebenden Werkes gemacht. Die bewusste Betonung der Musik lässt den zwangsläufigen Verzicht auf große Show-Szenen vergessen.
Stattdessen gibt es überraschende Gags. Da bleiben antiquiert gestelzte Worte im Text unwichtig. Die Liebe eines heimkehrenden Emigranten zu einer Zigeunerin, die in Wahrheit eine osmanische
Prinzessin ist, bewegt wie eh und je. Dies auch deshalb, weil auf verfremdenden politischen Gegenwartsbezug verzichtet wird.
Dorothee Wertz kaschiert in ihrer Inszenierung gegebene Zwänge durch muntere Einfälle. Sie lässt die Handlung durch eine
begleitende Dia-Schau karikierend interpretieren und sorgt mit einem Schweinchen für Belustigung. Die Ankunft der militärischen Werberkolonne auf dem seinerzeit vom Freiherrn von Drais noch nicht
erfundenen Veloziped passt allerdings nicht in die ansonsten der Handlungszeit des 17. Jahrhunderts entsprechende Ausstattung mit Kostümen (Anette Kircher) und Requisiten (Judith Kohlmann). Durch
Minimierung auf ein halbes Dutzend Soldaten wird die Heimkehr der im Spanien-Feldzug siegreich gebliebenen Habsburger-Armee nicht zur militaristischen Verlockung.
Tänzerische Einlagen
Der von der Sängerschaft getanzte Schatzwalzer markiert Zwischenaktbelebung. Augenweide gibt es durch tänzerische Einlagen
vom Adis-Tanz-Ensemble (Choreografie Adelinde Bohn). Der wandelbare Kulissenrahmen von Michael Grauer beweist Gespür für Illustration.
Für musikalischen Schwung sorgt Martin Künstner am Pult, vom Filharmonie Orchester Filderstadt mit Hingabe an Straußens
Musik unterstützt. Schon in der Ouvertüre offenbart sich das musikalische Interpretationsziel: Schwelgen in Melodienseligkeit und Rhythmus, in Stimmungsmalerei und Gemüt.
Das Gesangsensemble folgt diesen Vorgaben mit Stimme und Spiellaune. Daniel A. Thiersch zeigt gleich im anspruchsvollen
Entree-Couplet, dass er der Titelrolle tenoralen Glanz zu verleihen vermag. Adelinde Bohn gestaltet die Sopranpartie der Saffi mit Wohllaut und Empfindung, anrührend ihre Zigeunerarie. Mit dem
hingebungsvoll von Bohn und Thiersch gesungenen Duett »Wer uns getraut« erreicht die Aufführung ihren romantischen Höhepunkt.
Die Altistin Regina Lindner schlüpft leicht zigeunerisch in die Rolle der Czipra. Sehr gefühlsbetont gibt sich Ingrid Frey
(Sopran) als Schweinezüchter-Tochter Arsena. Ihr Vater Zsupán wird von Horst Nußbaum (Bariton) seiner ursprünglichen Komikerrolle entkleidet und fügt sich somit geschickt in den dezenten
Inszenierungsrahmen ein. Prächtige Charakterisierungen liefern Frank Bossert (Tenor) als Gouverneur und Hagen Henning (Bariton) als Sittenkommissar. In kleineren Rollen bewähren sich Gertraude
Rudolph-Sauer (Sopran) als standesbewusste Erzieherin und Jens Hauke Sippel (Tenor) als eifersüchtiger Ottokar. Dazu eine lebensvolle Schar von weiteren Mitwirkenden bis zu Einrad fahrenden
Kindern. Dass die Solisten mitunter gegen den Klangvorhang des nicht versenkbaren Orchesters nur schwer ankommen, nimmt das Publikum in der Ex-Aufmarschhalle mit Resignation hin.
Der gemischte Chor der Betzinger Sängerschaft bildet das kraftvolle Rückgrat der Aufführung. Er ist nicht nur
Handlungsbegleiter, sondern hat selbst auch fesselnde Szenen: Nettes Kuchenlied, klingender Schmiedechor, markanter Einzugsmarsch.
Der »Schani« hätte an dieser Aufführung seiner Spieloper sicher Freude. Sie lässt übersehen, dass der Junior-Johann auch
beim »Zigeunerbaron« kein Librettokunstwerk vertont hat. Anhaltender Bravo-Schlussbeifall für einen ansprechenden Abend.
(Reutlinger Nachrichten vom 22.11.2004
Operette / Betzinger Sängerschaft führt den "Zigeunerbaron" in der Reutlinger Listhalle auf
Balance im Walzer-Csardas-Takt
Martin Künstner und Dorothee Wertz inszenieren das Werk als Multimedia-Mix
Das hatte Witz und Charme: Die Betzinger Sängerschaft machte aus dem "Zigeunerbaron" von Johann Strauß einen zwischen
Ernst und Komik balancierenden Bühnen-Multimedia-Mix. Und zeigte damit eine sorgfältig einstudierte und rundum gelungene Aufführung.
Reutlingen: Das angeblich "leichte" Genre der Operette hat´s schwer. Die Musik zwar ist wertbeständig, aber an Text,
Handlung und Figuren hängt soviel Kitsch, Klischeehaftes und längst Überholtes, dass Modernisierungsversuche fast aussichtslos scheinen. Hinzu kommt die Crux mit den Sängern: Operettendarsteller
müssen gleichzeitig gut singen und sprechen können, und das können die wenigsten.
Umso höher ist es der Betzinger Sängerschaft und dem Team Martin Künstner (musikalische Leitung), Dorothee Wertz (Regie)
und Adelinde Bohn (Choreographie) anzurechnen, dass und wie sie den "Zigeunerbaron" aus der Schmuddelecke geholt und liebevoll aufgeputzt haben, in einer bis ins Detail abgestimmten, großartigen
Ensembleleistung.
Das junge "Filharmonie Orchester Filderstadt" unter Martin Künstners Leitung lotete die Ouvertüre mit soviel Ernst und
Hingabe aus, dass klar wurde, wieso der Walzerkönig Johann Strauß (Sohn) seinen "Zigeunerbaron" als Oper verstanden haben wollte. Aus den Tiefen des Vorspiels schälte sich frisch und zum
Dahinschmelzen schön der Walzer heraus und leitete über ins bunte Geschehen mit Ziehbrunnen und Zigeunerwagen - und einer Projektionswand darüber.
Auf diese wurden die Traum- und Klischeebilder per Computer und Beamer als Projektionen ins Blickfeld gerückt und
ironisiert: Fotos der Darsteller, von Puszta und Wiener Hof, Gemälde-Ausschnitte mit Liebespaaren und Schlachtgetümmel, Cliparts mit Münzen, Schweinchen, Mond und Wolken, Geigen oder reitenden
Husaren. Eine brillante Idee, die rasch bewegte Animation jedoch hätte auch sparsamer dosiert werden können.
Insgesamt bot sich ein stimmiges, dabei buntes und phantasievolles Bild, die Darsteller ergänzten sich erstaunlich gut in
ihren unterschiedlichen Sing- und Sprechweisen. Hatte Daniel A. Thiersch als Barinkay es nicht leicht in den hohen Stimmlagen, bildete er optisch ein wunderschönes Pendant zu Adelinde Bohn, die
mit ihrem beweglichen Sopran eine natürliche und koloraturfeste Saffi gab.
Rustikaler Schweinezüchter
Für Amüsement sorgten Horst Nussbaum, Frank Bossert und Hagen Henning als rustikaler Schweinezüchter respektive als
kaiserliche Höflinge in Brokat und Perücke mit witzigen und verständlichen Dialogen, gekonnt assistiert von Regina Lindner und Gertraude Rudolph-Sauer als Gouvernante und Zigeunerin, Ingrid Frey
und Jens Hauke Sippel als Arsena und Ottokar.
Abgerundet wurde die Inszenierung durch Tanzeinlagen von Adi´s Tanz-Ensemble - da flogen rote Röckchen und bunte Bänder im
Csardastakt - und witzige Details: Das Bild der Husaren zu Pferd auf der Leinwand wird kontrastiert mit auf Kleinrädern hereinradelnden uniformierte, Ottokar schwäbelt, die biedermeierliche
Volksmenge winkt mit Fähnchen aller Nationen, und Kinder tanzen fröhlich mit über die Bühne oder balancieren auf dem Einrad bezaubernd zum Walzertakt. Die Balance zwischen Ernst und Komik blieb
in der Schwebe, mit einer Heiterkeit und Leichtigkeit, die dem Fiktionscharakter der Operette bestens ansteht.
Fast konnte man darüber die harte Arbeit vergessen, die die Einstudierung für die Laien bedeutet. Die Aufführung zeugte von Engagement und Einfühlungsvermögen; der Chor der Sängerschaft zeigte sich bestens bei Stimme und locker-konzentriert bei der Sache. Ein professioneller Opernchor könnte es nicht besser machen. Da hätte es auch des Schweinchens als Zugnummer nicht bedurft - das lag im Leiterwägelchen und spitzte die Ohren - die Aufführung überzeugte als Ganzes und wurde mit lang anhaltendem Beifall bedacht.
Bericht: Daniel A. Thiersch
Klassik Openair und Feuerwerk stehen ganz oben auf einer Jahresbilanz, die ihresgleichen sucht. "Wir können uns sehen lassen in Reutlingen", so der stolze erste Vorstand der Betzinger Sängerschaft, Paul Grauer, auf der Generalversammlung des Chores am vergangenen Montag in der Betzinger Karlshöhe. Annerkennende Worte fand auch der musikalische Leiter der Betzinger Sängerschaft Martin Künstner: "Ein solch riesiges Projekt auf die Beine zu stellen, ist nicht alltäglich auf der Tagesordnung eines Vereines. Und darauf können wir stolz sein." Den scheidenden Vorstandsmitgliedern wurde für ihr ehrenamtliches Engagement gedankt. Ohne deren Arbeit und Einsatz hätte das 3. Reutlinger Klassik Openair nicht stattfinden können. In Hinblick auf die Zukunft gilt es nun, den Chor weiter zu öffnen, meinte Grauer. "Wir haben auch 2004 und 2005 Großes vor und freuen uns über zahlreiche helfenden Stimmen und Hände". "Mit unserem künstlerischen Programm haben wir weiterhin die Chance, den Chor auch über die Region hinaus bekannt zu machen. Wir sind da auf dem besten Weg", so Künstner. In diesem Jahr will die Betzinger Sängerschaft erneut einiges für den Gesangsnachwuchs tun. So sollen beim nächsten Weihnachtskonzert wieder junge Solisten gefördert werden. Paul Grauer wurde als erster Vorstand bestätigt. Klaus Knoblich wurde von Sybille Weitmann als zweiter Vorstand abgelöst. Vorsitzende des Frauenchores bleibt Waltraut Digel. Die Schriftführung bleibt ebenfalls den Händen von Thekla Aumann überlassen. Die Kassenverwaltung von Edith Stocker wurde nach achtjähriger Tätigkeit von Anette Kirchner übernommen. Beisitzerin der Vorstandschaft wurde Judith Kohlmann, und für die Öffentlichkeitsarbeit ist von nun an Daniel A. Thiersch zuständig. Als Highlights auf dem Programm stehen am 24. Juli 2004 das "4. Reutlinger Klassik Open-air", vom 18. Nov. 2004 bis 22. Nov. 2004 die szenische Aufführung des "Zigeunerbaron" von Johann Strauss und 2005 eine "Tango - Messe". Geprobt wird immer Montag (außer in den Schulferien) um 19:30 Uhr im Musiksaal der Betzinger Hoffmann-Schule bei der Julius-Kemmler-Halle. Alle Interessenten sind dazu recht herzlich eingeladen.